Schlager adé?Radio – Wird “Rhythmus der Nacht” nach über 15 Jahren wegrasiert?

Radio – Wird “Rhythmus der Nacht” nach über 15 Jahren wegrasiert?

Der deutsche Schlager erlebt einen Boom wie lange nicht. Der prozentuale Anteil an Tonträgern, die in den Charts sind, ist viel höher als das früher der Fall war. Alleine Helene Fischer füllt gleich mehrfach die großen Arenen, die von Weltstars nur ein- oder maximal zwei Mal gebucht werden. Andreas Gabalier gibt Stadionkonzerte. An all das war selbst in der Glanzzeit des deutschen Schlagers nicht mal ansatzweise zu denken.

Selbst jugendliches Publikum erwärmt sich für den deutschen Schlager, das gilt natürlich insbesondere für den Popschlager der Marke Helene Fischer, Andrea Berg und Beatrice Egli, aber auch für die Mallorca-Schiene – hier sind Namen wie Mia Julia und Mickie Krause zu nennen. Selbst Kultschlager sind nach wie vor sehr gefragt, wie beispielsweise die Tourneeerfolge Dieter Thomas Kuhns zeigen.

Radiomacher ignorieren Schlagerboom konsequent und schieben Umfragen vor

Normalerweise sollte man nun erwarten, dass die Radiomacher – insbesondere die der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten – mit Kusshand diesen Trend aufnehmen und den Schlager verstärkt ins Programm nehmen. Problematisch wird es, wenn die Entscheidungsträger hier ihren persönlichen Musikgeschmack als Maß aller Dinge nehmen, freilich ohne das zu kommunizieren. Man kann sich ganz einfach hinter Umfrageergebnissen verstecken, die angeblich klar besagen, dass die Menschen lieber Harpo als Helene Fischer im Radio hören. Dabei wird weder die Aussagekraft solcher Umfrageergebnisse in Frage gestellt (man denke an Brexit- und Traumumfragewerte) noch wird das Meinungsforschungsinstitut, das diese sehr erstaunlichen Ergebnisse in Zeiten des Schlagerbooms zu Tage fördert, genannt.

NDR holt sich für Eurovision Hilfe von Unternehmensberatung

Welche „Experten“ zu wissen glauben, was Radiohörer hören wollen und was nicht, da konnte man bislang nur orakeln. Ein Indiz ist das diesjährige Vorentscheidungs-Verfahren zur Eurovision (bzw. das zum Song Contest des kommenden Jahres). Eigentlich ist es eine Binsenweisheit, dass hier in erster Linie ein gutes, „mehrheitsfähiges“ Lied gesucht wird, zu dem im Idealfall der perfekte Interpret gefunden wird. In den letzten Jahren hat man es anders gemacht und sich (okay, überspitzt formuliert, aber den Kern treffend) beliebige Lieder nationaler und aberwitzigerweise gar internationaler Songautoren aus deren Papierkörben geben lassen und damit ein Casting von Nachwuchsleuten veranstaltet. Nachdem man sich damit nun mehrere Jahre bis auf die Knochen blamiert hat, suchte man sich Rat. Und da guter Rat buchstäblich „teuer“ ist, muss das natürlich schon mal viel Geld kosten.

Preisfrage: Wer könnte Deutschland wieder in die Erfolgsspur zurückführen? Wer weiß, wie man gute Komponisten und Interpreten zusammenführt? Wie ist der perfekte Modus? Man sollte meinen, der NDR als großer öffentlich-rechtlicher Sender, wüsste mit eigener Manpower Rat. Okay, der Sender hat sich mehrfach blamiert – die logische Konsequenz wäre, vielleicht mal einem anderen Sender die Verantwortung zu übertragen. Aber nein, man kam auf eine geniale Idee – und jetzt kommt’s: Man holte sich „Simon Kucher & Partners“ ins Boot, eine „Unternehmensberatung mit Fokus auf Strategie, Marketing, Pricing und Vertrieb“. Alles klar? Wenn sich Musikredakteure von „Unternehmensberatern“ sagen lassen, was musikalisch erfolgsversprechend ist, leuchtet auch langsam ein, warum man gegen jegliche Vernunft den Schlager im Rundfunk immer mehr rasiert und damit nationalen Künstlern die Existenzgrundlage nimmt und gleichzeitig internationalen Superstars noch mehr Geld zukommen lässt.

Ebenfalls im Boot sitzt eine Firma namens „U-Turn Research“. Das ist ein Marktforschungsunternehmen, das sich laut Facebook auf folgende Dinge spezialisiert hat: „Feldforschung, Rekrutierung, Organisation von Gruppendiskussionen, Tiefeninterviews, CATI, CAPI, POS-Studien, Beratung in Methoden und Zielgruppenauswahl, Rekrutierung für Online, Spezialisten für schwierige B2B-Zielgruppen, Politische Befragungen, Rechtsforschung, Pharma, Health Care, Automotive, Motorrad, Industrie...“ – klar, wer sonst sollte sich mit der Rekrutierung eines Eurovisions-Titels auskennen? …

Im größten Bundesland wird Schlager im Radio boykottiert – WDR4 ist nun schlagerfrei

Im größten Bundesland gab es mit WDR4 einen traditionellen Schlagersender, auf dem inzwischen so gut wie kein Schlager mehr stattfindet. Lediglich bei tragischen Todesfällen wird scheinheilig an Schlagersänger erinnert. Und einmal im Jahr – von welcher Unternehmensberatung auch immer herausgefunden – sind alle Menschen in NRW plötzlich Schlager-affin, nämlich an Karneval. Ansonsten hat man sich nach und nach komplett vom Schlager distanziert, wobei die Abschaffung der überaus beliebten „Schallplattenbar“ zu Gunsten einer Klassiksendung (wohlgemerkt: mit WDR3 gibt es einen eigenen Klassiksender) die Spitze des Eisbergs zu sein schien.

Die allerletzte Möglichkeit, auf WDR4  zumindest Discoschlager genießen zu können, war die langjährig erfolgreiche und beliebte Sendung „Rhythmus der Nacht“, die in diesem Jahr ihr 15-jähriges Bestehen feierte. Welches Institut genau über die Popularität dieser Radiosendung befragt wurde – vielleicht der Verband der Fleischfachhändler oder die Interessengemeinschaft der Pokerspieler – man weiß es nicht. Jedenfalls wird – wenn man Wikipedia Glauben schenken darf - nun (nochmal: in Schlagerboomzeiten) auch diese letzte Radio-Schlagerbastion einfach wegrasiert – ohne Not (vorbehaltlich dessen, dass Wikipedia falsch informiert. Typisch WDR4 wäre so eine Entscheidung komplett am Publikumsgeschmack vorbei definitiv). - Dass die traditionelle WDR4-Weihnacht nun von einer „WDR-Weihnacht“ ersetzt wird, weil die Veranstaltung nun vom WDR-Fernsehen (statt vom Radio) verantwortet wird, grenzt da fast schon an Realsatire.

Den öffentlichen Auftrag gibt es nur auf dem Papier…

Normales Konsumentenverhalten wäre nun, einfach sein Radio abzumelden. Das geht aber aufgrund der Gesetzeslage nicht. Wer z. B. einen Laptop hat, könnte ja Radio hören. Und was wird mit dem Geld gemacht, das Schlagerfans bezahlen, obwohl die Interessen dieser recht großen Gruppe nicht ansatzweise berücksichtig werden? Richtig, der „öffentliche Auftrag“ der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten muss ja erfüllt werden. Was damit gemeint ist? Zitieren wir den NDR: „Danach soll der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit seinen Programmangeboten ‚zur Information, Bildung, Beratung, Kultur und Unterhaltung einen Beitrag zur Sicherung der Meinungsvielfalt und somit zur öffentlichen Meinungsbildung‘ leisten. Grundversorgung meint, dass ein flächendeckender Empfang von Rundfunk für die Allgemeinheit genauso gewährleistet sein muss wie ein vielfältiges Programmangebot.“

Ganz offensichtlich zählt Schlager nicht zum vielfältigen Programmangebot. Ob das daran liegt, dass die Entscheidungsträger vorurteilsbeladen nur ihren Musikgeschmack walten lassen und sich nicht einen Deut um den ihrer Hörer scheren – oder ob womöglich Schlager gegen die guten Sitten verstößt? Man weiß es nicht.

Für die, die es nicht wissen – es gibt Ausweichmöglichkeiten, etwa den Schlager.de-Kooperationspartner Radio Schlagerparadies oder auch das empfehlenswerte Deutsche Musik Radio.

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